Am 22. Juni 1941, dem Tag des Angriffs auf die Sowjetunion, trat Europa als eigenständiger Akteur von der weltpolitischen Bühne ab. Das konnten damals nur besonders weitblickende Beobachter erahnen (und solche, die wußten, daß der amerikanische Kriegseintritt gegen Deutschland längst beschlossene Sache war). Aber für den europäischen Durchschnittsbürger war keinesfalls ausgemacht, daß Deutschland den Krieg verlieren mußte. Noch war Amerika nicht in den Krieg eingetreten, und die überwältigenden Anfangserfolge im Osten schienen Optimisten zu bestätigen. Es kam anders.
Die Gretchenfrage ist: was hätte die deutsche Führung anders machen können? Gab es eine realistische Chance, den Krieg zu beenden?
Es gab sie nicht, und niemand, der die Fakten unvoreigenommen zur Kenntnis nimmt, kann das leugnen. Hitler war nach dem Sieg über Frankreich zu jedem Zugeständnis bereit, um den Krieg mit dem einzigen verbliebenen Gegner, Großbritannien, ebenfalls zu beenden – und man muß daran erinnern, daß ja nicht Deutschland den Westmächten den Krieg erklärt hatte, sondern diese Deutschland. London wollte aber kein Ende des Krieges und setzte unter dem neuen Kriegspremier Winston Churchill alles, aber auch wirklich alles an seine Fortsetzung – wohlwissend, daß sich die USA im Hintergrund längst warmliefen und Präsident Roosevelt nur noch einen passenden Einstieg brauchte. Im Dezember 1941 lieferte ihm diesen der japanische Überfall auf die US-Flotte bei Pearl Harbor.
Mußte der Angriff auf Rußland im Juni 1941 sein?
Nach allem, was wir heute wissen: ja. Die gigantischen Bereitstellungen der Sowjets an Menschen und Material, in die die deutschen Panzerkeile im Sommer hineinstießen, drängten schon damals viele zu dem bösen Verdacht, man sei einem zum Angriff aufmarschierten Gegner um wenige Wochen zuvorgekommen. Schon seit Herbst 1940 hatte die deutsche Aufklärung eine kontinuierliche und zuletzt beunruhigende Truppenmassierung auf sowjetischer Seite festgestellt. Auch politisch war spätestens seit dem Besuch des sowjetischen Außenministers Molotow in Berlin im November 1940 zu spüren, daß der Wind drehte und Moskau auf Konfrontation umschaltete.
Molotow forderte nunmehr unumwunden Finnland, die Donau, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Türkei, Iran, Griechenland, Jugoslawien, den großen und kleinen Belt, Öresund, Kattegatt und Skagerrak und sogar Spitzbergen als sowjetische Einflußsphäre. Es war eine glatte Aufforderung zur Unterwerfung.
Der österreichische Historiker Ernst Topitsch, der der „sowjetischen Langzeitstrategie gegen den Westen“ schon 1985 eine Studie unter dem Titel „Stalins Krieg“ widmete, stellt völlig zutreffend fest: „Auch ein anderer Staatsführer als Hitler hätte in einer solchen Situation erwogen, den Würgegriff noch rechtzeitig zu sprengen.“
Hitlers Wendung gegen Rußland war kein ideologisches Langzeitkalkül, sondern maßgeblich durch Molotows Auftreten in Berlin beeinflußt. Es ging nicht anders.
Der russische Publizist und Ex-Geheimdienstler Viktor Suworow, einer der Kronzeugen der sogenannten „Präventivschlagthese“, schrieb dazu 1989 in seinem längst zum Klassiker gewordenen Buch „Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül“:
„Hitler war sich ganz offensichtlich nicht bewußt, wie sehr ihm das Glück hold gewesen war. Wäre das ´Unternehmen Barbarossa´ erneut verschoben worden, beispielsweise vom 22. Juni auf den 22. Juli, dann hätte Hitler nicht erst 1945 Hand an sich legen müssen, sondern schon sehr viel früher.
Es gibt mehrere Hinweise, daß der Termin für die sowjetische Operation ´Gewitter´ auf den 6. Juli 1941 festgesetzt war. Die Memoiren sowjetischer Marschälle, Generale und Admirale, Archivdokumente, eine mathematische Analyse der vorliegenden Daten zu der Bewegung Tausender sowjetischer Militärzüge – das alles deutet auf den 10. Juli als jenen Zeitpunkt hin, an dem der Aufmarsch der Zweiten Strategischen Staffel der Roten Armee in der Nähe der Westgrenzen abzuschließen war. Aber die sowjetische Militärtheorie sah den Übergang zum zügigen Angriff nicht nach der abgeschlossenen Truppenkonzentration vor, sondern vor diesem Abschluß. In diesem Fall konnte ein Teil der Zweiten Strategischen Staffel bereits auf gegnerischem Territorium ausgeladen und in den Kampf geführt werden.“
Heute sind wir klüger. Und wissen, daß der zweite Weltkrieg, den Russen und Deutsche gegeneinander führten, im Kalkül der gleichen anglo-amerikanischen Macht- und Kapitalkreise lag, die schon zuvor, Ende des 19. Jahrhunderts, als zentrale Maxime jeder amerikanischen Außenpolitik formuliert hatten, jedwedes Zusammengehen Deutschlands und Rußlands zu verhindern, weil es dem eigenen Aufstieg zur Weltmacht im Weg stand.
Europas Entmachtung als weltpolitischer Akteur begann 1917, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten (ebenfalls befördert durch eine „False flag“-Aktion, die Versenkung des mit Pulver und Munition schwerbeladenen Passagierdampfers „Lusitania“ im Mai 1915). Sie endete 1945 mit der Etablierung der Siegerordnung von Jalta und Potsdam. Glücklicher, friedlicher und gerechter ist die Welt dadurch nicht geworden.