Vor zwanzig Jahren fiel die Berliner Mauer – es war der Beginn eines seismischen Bebens, das die Grenzen der alten Bundesrepublik und Westeuropas um Hunderte von Kilometern nach Osten verschob. Konnte und musste dieser Vorgang nicht ein Anlass für einen Streit über die Erfolge und Defizite der Wiedervereinigung und für den Versuch sein, eine Vision für Deutschland und Europa in den nächsten 20 Jahren zu entwerfen?

Im Herbst 2008 gab es ein anderes Großereignis, das nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt an den Rand des Abgrunds gebracht hat Das Schlimmste ist zwar in den reichen Ländern durch eine beispiellose öffentliche Verschuldung gemildert und vernebelt worden, aber jeder ökonomisch halb gebildete Bürger weiß, dass noch die nächste und die übernächste Generation für die Exzesse der Investment-Banker wird zahlen müssen. Man kann nur staunen, wie diskret das Thema im Wahlkampf behandelt wurde.

Das größte Wunder des Wahlkampfs 2009 war aber zweifellos die Wiederauferstehung der FDP… die unter der viel zu langen Herrschaft ihres Vormanns Guido Westerwelle zu einer Partei verkommen (ist), die vor allem die Freiheit einiger privilegierter Individuen verteidigt – die Freiheit der Banker und der Unternehmer. Noch bis vor einem Jahr huldigte sie der Religion der amerikanischen Neocons, wonach Märkte sich selber regulieren. Folglich bekämpfte sie erbittert alle halbherzigen Versuche der großen Koalition, die Finanzwirtschaft zu regulieren. Noch im Mai 2009 machte sich die Partei für die Eigentumsrechte des amerikanischen Großaktionärs und Milliardärs Christopher Flowers an der bankrotten deutschen Bank HRE (Hypo Real Estate) stark – einer Bank, die gar nicht mehr existieren würde, wäre sie nicht mit über 100 Milliarden Staatsgarantien, also mit dem Geld der Steuerzahler, vor dem Untergang bewahrt worden. Aber Wunder über Wunder: ausgerechnet diese Partei, die statt der Freiheit des Individuums die Freiheit der Zocker verteidigt, stieg wie keine andere in der Wählergunst. In einer ungeheuren Wirtschaftskrise halten sich die Wähler an die Leute, denen sie bisher wirtschaftliche Kompetenz zutrauten – also an die Leute, die sie ins Verderben führten.

Die Praktisch-Das-Selbe-Partei (Linke) verspricht alles, was nicht finanzierbar ist: ein neues sozialistisches Paradies, das in der ehemaligen DDR nicht blühen wollte. Neben der FDP profitierte also auch diese Partei von der Weltwirtschaftskrise und erhielt neuen Zulauf.

Der einzige “wirkliche” Sieger des 27. September ist aber wohl einmal mehr die Partei der Nichtwähler, die von den Parteien, die zur Wahl standen, nur noch eines erwarten: praktisch dasselbe. (Von P. Schneider/Der Standard, Wien, gekürzt, Printausgabe, 28.9.2009)

Dr. Kersten Radzimanowski