Heute ist Reformationstag. Normalerweise ein Anlass für die evangelische Kirche, sich selbst zu feiern, sich auf die Schulter zu klopfen und darüber zu reden, wie wichtig die Lehren Luthers für unsere moderne Gesellschaft sind. Aber wäre Martin Luther heute noch unter uns – und könnte man ihm einen Fernseher und ein Zeitungsabonnement in die Hand drücken – man kann sich fast sicher sein, dass er ein erbitterter Kritiker der heutigen evangelischen Kirche wäre. Würde er die modernen Predigten zur Klimarettung, die freudigen Bekenntnisse zur Gender-Gerechtigkeit und die Toleranz für jede erdenkliche Form des Familienlebens hören, würde ihm wohl das Frühstücksbier sauer aufstoßen.

Luther war kein Mann der leisen Töne. Als er 1517 die 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, ging es ihm um nichts Geringeres als die Rettung der Seele der Kirche. Die katholische Kirche, so Luthers Ansicht, hatte sich verirrt in ihrer Geldgier und ihrem Machtgehabe. Doch so überzeugt Luther vom Wert der Nächstenliebe war, wäre er mit den „gutmenschlichen“ Konzepten, die heute in der evangelischen Kirche so penetrant propagiert werden, wohl kaum einverstanden gewesen. Er hat sich in seinen Schriften geradezu lustvoll darüber ausgelassen, dass fromme Werke um der Selbstdarstellung willen eher ein Weg zur Hölle als ins Paradies seien. Luthers harte Kritik an „Werken der Selbstgerechtigkeit“ trifft mit entwaffnender Präzision auf das, was die Evangelische Kirche 2024 so gerne als ihre Mission sieht: eine Gesellschaft, die sich mit moralischen Prädikaten selbst besser fühlen möchte.

Wer braucht schon das Evangelium, wenn man sich als Kirche doch politisch zur Schau stellen kann? Der moderne Protestantismus wirkt wie eine bunte Soße aus Social-Media-fähigen Kampagnen, Klimaaufrufen und Identitätsbekundungen. Luther wollte, dass die Bibel wieder im Mittelpunkt steht – die wahre Schrift und nicht das gesellschaftliche Spiegelkabinett, in das die Evangelische Kirche heute so gern blickt. Die Klimapredigten oder die Gender-Theologie würden ihm vermutlich erscheinen wie eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Ablassbriefen: moralische Schnelllösungen, die zwar das eigene Selbstbild stärken, aber das Wesentliche, die Bibel und ihre Werte, aus den Augen verlieren.

Und dann wäre da noch ein Punkt, bei dem Luther wohl laut protestieren würde: der Umgang mit der Familie. Luther war ein Mann der Ordnung, ein Verfechter der Ehe als Grundpfeiler der Gesellschaft. In seinen Augen stellte die Ehe ein unzerstörbares Band dar, das von Gott gestiftet wurde und eine klare Rolle im sozialen Leben hatte. Heute dagegen bewegt sich die evangelische Kirche in einem lockeren Verhältnis zu ihren traditionellen Wurzeln und begrüßt auffalend deutlich „alternative Familienmodelle“. Nun soll jeder leben, wie er mag, aber dass die Kirche selbst diesen Wandel unterstützt und allzu oft sogar feiert – nun, da würde sich Luther wohl in seinem Grab umdrehen.

Wäre Luther ein Patriot? Eindeutig. Er hatte eine Liebe zur Heimat, die er in seinen Schriften, besonders in „An den christlichen Adel deutscher Nation“, immer wieder betonte. Luther war ein Patriot, der die deutsche Sprache und Kultur mit seiner Bibelübersetzung gefördert hat und sich für ein unabhängiges Christentum in Deutschland stark machte. Die heutige Evangelische Kirche hingegen scheint oft näher an der globalen „Weltkirche“ als an der eigenen Nation. Man stelle sich vor, Luther wäre heute unter uns. Er würde wohl keine Schilder in die Kamera halten, die für jede neue gesellschaftliche Strömung eintreten. Er würde wohl kaum mitfahren auf dem moralischen Karussell, das die evangelische Kirche so bereitwillig antreibt. Luther würde wohl – in aller Deutlichkeit – zurück zur Bibel rufen und den Zeigefinger heben. An die Adresse der modernen Kirchenvertreter könnte man ihn sich geradezu vorstellen: „Das Evangelium ist genug – haltet Euch daran, und lasst Euch nicht von jedem Hauch des Zeitgeists treiben!“

Ja, Martin Luther war ein Rebell. Doch sein Ziel war nicht, die Kirche mit gesellschaftspolitischen Konzepten vollzupumpen, sondern sie wieder auf den Glauben zu fokussieren. Heute scheint die evangelische Kirche ihre eigene Reformation zu brauchen – nicht gegen Rom, sondern gegen die eigene Vorliebe für eine Ideologie, die mit Bibel und Luther herzlich wenig zu tun hat.