Wer heute aus dem Berliner Hauptbahnhof tritt, sieht nicht mehr die Hauptstadt eines alten Kulturvolks. Er blickt auf eine Kulisse aus Stahl, Glas und Beton – seelenlos, gesichtslos, beliebig. Dieses Bild ließe sich austauschen: gegen Düsseldorf, Frankfurt, Rotterdam oder Zürich-West. Die Sprache der Gegenwart baut keine Orte, sie errichtet Funktionen. Doch auch hier wächst der Widerstand – leise, aber unübersehbar.

Traditionelles Bauen ist keine Nostalgie – sondern kulturelle Erneuerung

In Budapest entstehen Neubauten, die aussehen, als wären sie 1890 geplant worden – und 2024 erst vollendet. Giebel, Gesimse, Ornament und Fassadenkunst: keine Kopie, sondern Weiterentwicklung. In Polen, wo ganze deutsche Innenstädte im Krieg zerstört wurden, kehren verlorene Stadtbilder zurück – nicht als Disneyland, sondern als bewusst gewählte Identität.

Auch im Westen wächst ein neues Bewusstsein. In London entstehen durch die „Traditional Architecture Group“ wieder Bauwerke nach klassischen Prinzipien. In den USA mehren sich Stimmen, die dem Bauhaus-Erbe und der Investorenmoderne die Rückbesinnung auf Maß, Material und Menschenbild entgegensetzen.

Was sie alle eint: die Überzeugung, dass der Mensch wieder Maßstab sein muss.

Autauschbare Architektur allerorten

Von Rasterburgen und Styropor-Städten – die neue Trostlosigkeit

Man erkennt sie auf den ersten Blick: jene rechteckigen Mehrfamilienhäuser, die heute ganze Neubaugebiete prägen.
Sie heißen „Residenz am Stadtpark“, sehen aber aus wie ein Verwaltungsbau mit Balkonen.

  • Null Ornamentik
  • Rasterfassade mit pflichtschuldigen Loggien
  • Flachdach oder kosmetisch geneigtes Pseudo-Pultdach
  • Farben: Weiß, Grau, Beige
  • Gabionen, Carports, Schottergärten

Die Mieten? Auf Jugendstilniveau. Der Charme? Wie im Druckerraum.

Wie nennen wir diese neue Kälte?

  • „Rasterburgen“ – emotionslos und monoton
  • „Investorenkubismus“ – gestapelte Rendite, keine Idee
  • „Styropor-Siedlungen“ – weil Dämmung keine Ästhetik ersetzt
  • „Architektur der Entfremdung“ – man wohnt, aber lebt nicht
  • „Betonbanalismus“ – das Grau in Grau des Funktionalismus
  • „LEGO-Stadt für Erwachsene“ – genormt, gestapelt, seelenleer

Diese Begriffe helfen nicht nur beim Lachen – sie benennen ein Unbehagen, das viele spüren, aber selten aussprechen.

Was echte Schönheit ausmacht – und warum sie uns fehlt

Traditionelle Architektur ist nicht laut, aber sie spricht. Sie vermittelt Haltung, zeigt Respekt. Sie erzählt von Herkunft, von Dauer, von menschlicher Würde.

Ein wohlproportioniertes Gebäude wirkt wie ein vertrauter Ton in einem überlauten Konzert.

Gendarmenmarkt in Berlin

Demgegenüber stehen die Fassaden der Gegenwart: glatt, spiegelnd, kühl. Sie reflektieren Licht, aber keine Bedeutung. Sie lassen durchblicken, aber nichts zurück.

Karl Friedrich Schinkel, der große Baumeister Preußens, nannte Architektur „erstarrte Musik“. Wer das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt oder das Alte Museum kennt, weiß, was damit gemeint ist: Harmonie, Maß, Menschlichkeit in Stein gegossen.

Was Städte stark macht, ist ihr Gesicht – nicht ihre Quadratmeter

Eine Stadt ist mehr als Infrastruktur. Sie ist kollektives Gedächtnis in Stein. Wenn ihre Straßen, Plätze und Häuser keine Geschichte mehr erzählen, verliert der Mensch seine Verortung. Trostlosigkeit, Gleichgültigkeit und Anonymität sind die Folge – man ist da, aber nicht zu Hause.

Wer durch Quedlinburg, Erfurt oder das Barockviertel Dresdens wandert, spürt: Schönheit ist kein Luxus. Sie ist Voraussetzung für Heimat.

Deutschland braucht eine neue Baukultur

Wenn wir unsere Städte zukunftsfähig machen wollen, müssen wir mehr tun als auf Energieeffizienz achten. Wir müssen auch an Schönheit, Würde und Dauer denken.

  • Weniger Glas, mehr Fassadenkunst
  • Weniger Investorenlogik, mehr baukulturelle Verantwortung
  • Weniger Effekthascherei, mehr Maß und Mitte

Wir fordern:

  • Ein bundesweites Förderprogramm für traditionell inspirierte Architektur
  • Kommunale Leitlinien für regionaltypisches Bauen
  • Eine Architekturpolitik, die sich an Wahrhaftigkeit, Maß und Menschlichkeit orientiert

Stellen wir uns vor: In jeder deutschen Stadt wächst ein neues Viertel, gebaut im Geist von Schinkel, Semper oder der regionalen Baukunst. Ein Zukunftsbild – aber kein unrealistisches.

Ein letzter Gedanke

Städte sind gebaute Erinnerung. Und Erinnerung ist mehr als Archiv – sie ist ein Ort, an dem wir leben. Denn was ist eine Stadt ohne Erinnerung? Ein Ort, an dem man wohnt, aber nie zu Hause ist.